Was ist Katholische Soziallehre?
Was auf den ersten Blick vielleicht allzu vertraut, allzu fromm oder allzu theoretisch klingt, birgt aus sozialethisch-politischer Perspektive betrachtet einiges an Sprengstoff. Alle Menschen sind hier und jetzt (und nicht erst im Jenseits) zu einem „Leben in Fülle“ berufen: Damit ist zwar nicht ein Leben in Luxus gemeint, aber auch nicht irgendein Leben und schon gar nicht bloßes Überleben. Es geht um ein Leben in Würde, Gerechtigkeit und Frieden, in dem ein Mensch seine ganz persönlichen Potentiale und Fähigkeiten entfalten und sie zum Wohl seiner Selbst und der Gemeinschaft, in der er lebt, einsetzen kann. Diese befreiende und heilende Zusage Jesu zu vermitteln, ist die zentrale Aufgabe der Kirche. Und da Leben in Fülle das gute Leben im umfassenden Sinn, also den ganzen Menschen in seiner leib-seelischen Verfasstheit und seine Lebensverhältnisse meint, bleibt die kirchliche Verkündigung, will sie glaubhaft sein, nicht beim Reden stehen, sondern sucht das verheißene Heil auch (ansatzhaft) erfahrbar zu machen.
Sozialverkündigung oder Soziallehre im umfassenden Sinn meint deshalb sowohl ein Moment kirchlicher Praxis als auch die Reflexion dieser Praxis in der Theologie. Sie geschieht im Zusammenspiel zwischen der „kirchlichen Basis“ (Gemeinden, Initiativen, Bewegungen), dem Lehramt und der christlichen Sozialethik als theologischer Wissenschaft. Sie alle leisten mit ihren je spezifischen Kompetenzen einen unverzichtbaren Beitrag in diesem Gefüge. Theorie und Praxis der sozialen Verantwortung sind dabei untrennbar miteinander verwoben: In der Praxis zeigen sich Fragen, Probleme, Herausforderungen – und im Blick auf die Praxis ist nach Lösungen zu suchen, weshalb Lehramt und wissenschaftliche Theologie ihre Analysen und Lösungen nur in enger Rückbindung an diese Praxis punktgenau erarbeiten können.
Im engeren Sinn versteht man unter „Soziallehre der Kirche“ im katholischen Bereich einen Kernbestand von Texten, die aus dem Bemühen um soziale Orientierungen auf der Basis des christlichen Verständnisses von Welt und Mensch erwachsen sind. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, nehmen diese lehramtlichen Texte der Konzilien, der Päpste und der Bischöfe Stellung zu verschiedenen gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Themen und finden Ergänzung durch Äußerungen anderer Akteure, besonders von verschiedenen Organisationen der Kirchenbasis. Wichtig ist hierbei die Einsicht, „dass eine situations- und sachgerechte Stellungnahme zu den weltweit höchst vielschichtigen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Problemen nicht primär ‚von oben‘, vom gesamtkirchlichen Lehramt kommen kann, sondern dass diesbezüglich in erster Linie die Kompetenzen ‚vor Ort‘ gefordert und gefragt sind. […] Dort müssen in Zusammenarbeit mit allen möglichen kompetenten Partnern Probleme erkannt und analysiert sowie Lösungswege gesucht werden.“ (1)
1) Heimbach-Steins, Marianne. Kirchliche Sozialverkündigung – Orientierungshilfen zu den Dokumenten. In: Heimbach-Steins, Marianne (Hg.): Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch. Bd. 1. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2004, 200-219, hier 208; Vgl. Paul VI in Octagesima adveniens 4.