Geschichte und Meilensteine der Katholischen Soziallehre
Aus der Berufung zu einem Leben in Fülle (in Würde, Gerechtigkeit und Frieden) für alle Menschen folgt für die Christen ein Auftrag zur aktiven Nächstenliebe und Diakonie (von griech. diakonia „Dienst“). Dieses Engagement für andere, vor allem Menschen in physischen, sozialen oder seelischen Notlagen, wurde in der Geschichte der Kirche auf sehr unterschiedliche Weise realisiert. Mit Ingeborg Gabriel lassen sich drei Phasen unterscheiden: (2)
In den frühchristlichen Gemeinden lag der Schwerpunkt auf der Hilfe für notleidende Gemeindemitglieder und der Überwindung binnenkirchlicher Armut, also vor allem um karitative Unterstützung für Mitglaubende.
Als das Christentum unter Kaiser Konstantin zur Staatsreligion wurde, bedeutete das – neben einer weniger ruhmreichen Geschichte der kirchlichen Versuchung zur Macht – auch einen beachtlichen Aufbau karitativer Hilfswerke und Einrichtungen für Arme und Kranke vor allem durch Ordensgemeinschaften und geistliche Laienbewegungen.
Die dritte Phase begann im 19. Jahrhundert, als staatliche Wohlfahrtsinstitutionen begannen, einen Teil jener Aufgaben zu übernehmen, die ehemals die kirchliche Caritas geleistet hatte und erste christlich-soziale Bewegungen entstanden, welche die neuen demokratischen Freiheiten nutzten, um entsprechenden politischen Einfluss auszuüben.
Ende des 19. Jahrhunderts bedingte die angesichts der Industrialisierung immer brisanter werdende Soziale Frage die Entwicklung einer eigenständigen Soziallehre, welche die soziale Verantwortung der Kirche in allen Bereichen der Gesellschaft betont. Angesichts der Auswirkungen der industriellen Revolution und des Elends der Arbeiterschaft der brisanten sozialen Lage in vielen europäischen Städten verfasste Papst Leo XIII. 1891 die als „Mutter aller Sozialenzykliken“ bezeichnete Enzyklika Rerum novarum (RN). Seither folgten, meist in den entsprechenden Jubiläumsjahren, manchmal aus aktuellem Anlass auch dazwischen, weitere Sozialenzykliken und universalkirchliche Dokumente mit verschiedenen Akzent- und Schwerpunktsetzungen: (3)
- 1931 Quadragesimo anno (QA) von Pius XI. (Auseinandersetzung mit den totalitären Ideologien, Betonung des Subsidiaritätsprinzips)
- 1961 Mater et magistra (MM) von Johannes XXIII. (Internationalisierung der „Sozialen Frage“, erstmals Auseinandersetzung mit der Frage der Entwicklung und der Landwirtschaftsproblematik, Betonung des Solidaritätsprinzips)
- 1963 Pacem in terris (PT) von Johannes XXIII (Friedensthematik, „Menschenrechtscharta“, Adressaten sind erstmals „alle Menschen guten Willens“)
- 1965 Gaudium et spes (GS), keine Enzyklika, sondern eine Konzilsdokument (Pastoralkonstitution), mit dem Fokus auf dem Bemühen, „die Zeichen der Zeit“ zu erkennen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten (GS 4). Der erste Abschnitt bringt eine theologische und ethische Analyse der gegenwärtigen Weltsituation, im zweiten Abschnitt werden verschiedene Lebensbereiche auf ihre ethischen Implikationen hin untersucht (Ehe und Familie, Kultur, Politik, Wirtschaft, internationale Friedensordnung)
- 1967 Populorum progressio (PP) von Paul VI. (Fragen der internationalen Entwicklung, Entwicklung als neuer Name für Friede)
- 1971 Octogesima adveniens (OA), ein apostolisches Schreiben von Paul VI. (Sehen - Urteilen – Handeln, um ungerechte Situationen zu verändern, Rolle der Ortskirchen, Urbanisierung)
- 1981 Laborem exercens (LE) von Johannes Paul II. über die Arbeit als Kernpunkt der „Sozialen Frage“ mit einem klaren Vorzug der Arbeit vor dem Kapital und Ansätzen einer Theologie und Spiritualität der Arbeit.
- 1987 Sollicitudo rei socialis (SRS) von Johannes Paul II. mit Schwerpunkten auf der globalen Entwicklungsproblematik, einer Kritik am Fortschrittsoptimismus, dem Modell „wahrer Entwicklung“, der Option für die Armen und der Einführung des Terminus „Strukturen der Sünde“
- 1991 Centesimus annus (CA) von Johannes Paul II zur „Sozialen Frage“ nach dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ und einer Option für sozial und ökologisch verträgliche, demokratische Marktwirtschaft
- 2009 Caritas in veritate von Benedikt XVI. (die Wirtschafts- und Finanzkrise als Chance für ein radikales Umdenken verstanden und Möglichkeiten einer positiven Entwicklung der Globalisierung im Sinne einer Kultur der Liebe)
2) Vgl. Gabriel, Ingeborg. Grundzüge und Positionen katholischer Sozialethik. In: Gabriel, Ingeborg, Papaderos, Alexandros K., Körtner, Ulrich H. J.: Perspektiven ökumenischer Sozialethik. Der Auftrag der Kirchen im größeren Europa (2. Auflage).Matthias-Grünewald-Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2006, 127 – 226, hier 167ff.
3) Vgl. Heimbach-Steins, Marianne. Kirchliche Sozialverkündigung – Orientierungshilfen zu den Dokumenten. In: Heimbach-Steins, Marianne (Hg.): Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch. Bd. 1. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2004, 200-219, hier 213-218.