1 Die Kirche, das pilgernde Volk, betritt, von Christus, dem „erhabenen Hirten“ (Hebr 13, 20) geführt, das dritte Jahrtausend der christlichen Ära: Er ist die Heilige Pforte (vgl. Joh 10, 9), die wir anlässlich des Großen Jubiläums im Jahr 2000 durchschritten haben.1 Jesus Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben (vgl. Joh 14, 16): wenn wir das Antlitz des Herrn betrachten, festigen wir unseren Glauben und unsere Hoffnung in Ihn, den einzigen Erlöser und das Ziel der Geschichte.
Die Kirche wendet sich auch weiterhin an alle Völker und alle Nationen, weil dem Menschen nur im Namen Christi das Heil geschenkt ist. Das Heil, das der Herr Jesus uns „um einen teuren Preis“ (1 Kor 6, 20; vgl. 1Petr 1, 18–19) erkauft hat, erfüllt sich in dem neuen Leben, das die Gerechten nach dem Tod erwartet, doch es erfasst auch diese Welt in den Realitäten der Wirtschaft und der Arbeit, der Technik und der Kommunikation, der Gesellschaft und der Politik, der internationalen Gemeinschaft und der Beziehungen zwischen den Kulturen und Völkern: „Wir unsererseits wissen, dass Jesus gekommen ist, um das umfassende Heil zu bringen, das den ganzen Menschen und alle Menschen erfassen soll, um die wunderbaren Horizonte der göttlichen Kindschaft zu erschließen“.2
2 An der Schwelle dieses dritten Jahrtausends wird die Kirche nicht müde, das Evangelium zu verkünden, das auch in den zeitlichen Dingen Heil und authentische Freiheit schenkt, und sie ist dabei der feierlichen Weisung eingedenk, die der heilige Paulus an seinen Schüler Timotheus richtete: „Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung. Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien zuwenden. Du aber sei in allem nüchtern, ertrage das Leiden, verkünde das Evangelium, erfülle treu deinen Dienst!“ (2 Tim 4, 2–5).
3 Die Kirche stellt ihren Weggefährten, den Männern und Frauen unserer Zeit, auch ihre Soziallehre zur Verfügung. Wenn nämlich die Kirche „ihren Auftrag, das Evangelium zu verkünden, erfüllt, bescheinigt sie dem Menschen im Namen Christi seine Würde und seine Berufung zu personaler Gemeinschaft; sie lehrt ihn die Forderungen der Gerechtigkeit und der Liebe, die der göttlichen Weisheit entsprechen“.3 Diese Lehre ist von einer tiefen Einheit, die aus dem Glauben an ein umfassendes Heil, aus der Hoffnung auf die Fülle der Gerechtigkeit und aus der Liebe entspringt, die alle Menschen wirklich zu Brüdern und Schwestern in Christus macht: Sie ist Ausdruck der Liebe Gottes zur Welt, die Er so geliebt hat, „dass er seinen einzigen Sohn hingab“ (Joh 3, 16). Das neue Gesetz der Liebe umfasst die gesamte Menschheit und kennt keine Grenzen, denn die Verkündigung des Heils in Christus breitet sich aus „bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1, 8).
4 Der Mensch, der entdeckt, dass er von Gott geliebt wird, begreift seine eigene, transzendente Würde; er lernt, sich nicht mit sich selbst zu begnügen und dem anderen in einem Netz zunehmend authentischer menschlicher Beziehungen zu begegnen. Menschen, die von der Liebe Gottes neu geschaffen wurden, sind in der Lage, die Regeln und die Qualität der Beziehungen und sogar die gesellschaftlichen Strukturen zu verändern: es sind Personen, die Frieden brin- gen können, wo Konflikte bestehen, die brüderliche Bindungen schaffen und aufrechterhalten können, wo Hass herrscht, die die Gerechtigkeit suchen, wo die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen überwiegt. Nur die Liebe vermag die Beziehungen, die die Menschen zueinander unterhalten, auf radikale Weise zu verwandeln. Jeder Mensch guten Willens, der sich diese Perspektive zu Eigen macht, kann die unermesslichen Horizonte der Gerechtigkeit und der menschlichen Entwicklung in der Wahrheit und im Guten erkennen.
5 Die Liebe hat eine gewaltige Aufgabe zu bewältigen, zu der die Kirche auch mit ihrer Soziallehre, die den ganzen Menschen betrifft und sich an alle Menschen wendet, einen Beitrag leisten will. So viele unserer Not leidenden Brüder und Schwestern warten auf Hilfe, so viele Unterdrückte warten auf Gerechtigkeit, so viele Arbeitslose warten auf Arbeit, so viele Völker warten auf Anerkennung: „Kann es tatsächlich möglich sein, dass es in unserer Zeit noch Menschen gibt, die an Hunger sterben? Die dazu verurteilt sind, Analphabeten zu bleiben? Denen es an der medizinischen Grundversorgung fehlt? Die kein Haus, keine schützende Bleibe haben? Der Schauplatz der Armut lässt sich unbegrenzt ausweiten, wenn wir zu den alten die neuen Formen der Armut hinzufügen, die häufig auch die Milieus und gesellschaftlichen Gruppen betreffen, die zwar in wirtschaftlicher Hinsicht nicht mittellos sind, sich aber der sinnlosen Verzweiflung, der Drogensucht, der Verlassenheit im Alter oder bei Krankheit, der Ausgrenzung oder sozialen Diskriminierung ausgesetzt sehen. (…) Wie könnten wir uns abseits halten angesichts eines voraussichtlichen ökologischen Zusammenbruchs, der weite Gebiete des Planeten unwirtlich und menschenfeindlich macht? Oder im Hinblick auf die Probleme des Friedens, der immer wieder durch den Alptraum katastrophaler Kriege bedroht ist? Oder angesichts der Verachtung der menschlichen Grundrechte gegenüber so vielen Personen, besonders den Kindern?“.4
6 Die christliche Liebe drängt uns dazu, Missstände anzuprangern, Vorschläge zu unterbreiten und uns zu engagieren für eine kulturelle und soziale Entwicklung, sie drängt uns zu einer effektiven Tatkraft, die alle, denen das Schicksal des Menschen aufrichtig am Herzen liegt, dazu anspornt, einen eigenen Beitrag zu leisten. Die Menschen erkennen immer deutlicher, dass sie alle dasselbe Schicksal teilen und daher aus einem umfassenden und solidarischen Humanismus heraus gemeinsam Verantwortung übernehmen müssen: sie sehen, dass dieses gemeinsame Schicksal häufig durch Technik oder Wirtschaft bedingt und ihnen sogar aufgezwungen wird, und sie verspüren das Bedürfnis nach einem stärkeren moralischen Bewusstsein, das ihrem gemeinsamen Weg eine Richtung gibt. Die Menschen unserer Zeit stehen staunend vor den vielfältigen technologischen Neuerungen und hegen den dringenden Wunsch, dass der Fortschritt auf das wahre Wohl der Menschheit von heute und von morgen ausgerichtet sein soll.
b) Die Bedeutung des Dokuments
7 Der Christ weiß, dass er in der Soziallehre der Kirche die Grundsätze des Den- kens, die Urteilskriterien und die Richtlinien des Handelns findet, von denen aus er zu einem umfassenden und solidarischen Humanismus aufbrechen kann. Die Verbreitung dieser Lehre stellt daher in der Seelsorge eine echte Priorität dar, damit die Personen von ihr erleuchtet und fähig werden, die Wirklichkeit von heute zu deuten und geeignete Wege des Handelns zu suchen: „Ihre Soziallehre vorzutragen und zu verbreiten ist Teil des Verkündigungsauftrages der Kirche“.5 In dieser Hinsicht ist es für äußerst hilfreich erachtet worden, ein Dokument herauszubringen, das die grundlegenden Züge der kirchlichen Soziallehre und ihre Beziehung zur Neuevangelisierung darstellen soll.6 Der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden, der es erarbeitet hat und die volle Verantwortung dafür übernimmt, hat für dieses Werk in großem Umfang unter anderem seine eigenen Mitglieder und Berater, einige Kongregationen der Römischen Kurie, Bischofskonferenzen verschiedener Länder, einzelne Bischöfe und Experten in den behandelten Fragen hinzugezogen.
8 Dieses Dokument versteht sich als eine zwar knappe, aber umfassende und systematische Darstellung der Soziallehre, die eine Frucht weiser lehramtlicher Überlegung und ein Ausdruck des ständigen Engagements der Kirche in Treue zur Erlösergnade Christi und in der liebevollen Sorge um das Schicksal der Menschheit ist. Die wichtigsten theologischen, philosophischen, moralischen, kulturellen und seelsorgerischen Aspekte dieser Lehre werden hier in ihrer organischen Beziehung zu den sozialen Fragen wieder aufgegriffen. Auf diese Weise wird die Fruchtbarkeit der Begegnung zwischen dem Evangelium und den Problemen bezeugt, mit denen der Mensch sich auf seinem historischen Weg konfrontiert sieht. Bei der Lektüre des Kompendiums sollte beachtet werden, dass die Zitate der lehramtlichen Texte aus Dokumenten stammen, denen eine unterschiedliche Autorität zukommt. Neben Konzilsdokumenten und Enzykliken finden sich Ansprachen von Päpsten oder Dokumente, die in den Kongregationen des Heiligen Stuhls erarbeitet worden sind. Es scheint daher angebracht, noch einmal auf die bekannte Tatsache hinzuweisen, dass der Leser es mit unterschiedlichen Ebenen der Lehre zu tun hat. Das Dokument, das sich darauf beschränkt, die wichtigsten Züge der Soziallehre darzulegen, stellt ihre Anwendung, die sich nach den je unterschiedlichen Gegebenheiten vor Ort zu richten hat, in die Verantwortung der Bischofskonferenzen.7
9 Das Dokument bietet einen umfassenden Überblick über die grundlegenden Züge des theoretischen „Corpus“ der kirchlichen Soziallehre. Dieser Überblick ermöglicht es, in angemessener Weise die sozialen Fragen unserer Zeit anzugehen, die in ihrer Gesamtheit betrachtet werden müssen, weil sie sich als immer stärker miteinander verflochten erweisen, einander gegenseitig bedingen und die Menschheitsfamilie mehr denn je betreffen. Die Darstellung der Grundsätze der kirchlichen Soziallehre möchte im Hinblick auf die Suche nach Problemlösungen eine organische Vorgehensweise vorschlagen, damit die Einschätzung, die Beurteilung und die Entscheidungen der Wahrheit entsprechen und damit Solidarität und Hoffnung auch in der Komplexität der heutigen Gegebenheiten wirksam werden können. Denn die Grundsätze bedingen und erhellen einander, weil sie die christliche Anthropologie zum Ausdruck bringen,8 die aus der Offenbarung der Liebe Gottes zur menschlichen Person erwächst. Dennoch ist gebührend darauf zu achten, dass der Lauf der Zeit und die Veränderung der sozialen Verhältnisse es erforderlich machen, immer wieder neu über die verschiedenen hier vorgelegten Themen nachzudenken, um die neuen Zeichen der Zeit zu deuten.
10 Das Dokument will ein Instrument für die moralische und seelsorgerische Einschätzung der komplexen Ereignisse sein, die unsere Zeit charakterisieren; ein Leitfaden, der auf individueller und kollektiver Ebene zu Verhaltensweisen und Entscheidungen inspiriert, die uns mit Zuversicht und Hoffnung in die Zukunft blicken lassen; und eine Hilfe für die Gläubigen hinsichtlich der Lehre von der sozialen Moral. Es kann zu einem neuen Engagement führen, das auf die Erfordernisse unserer Zeit zu antworten vermag und auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Menschen zugeschnitten ist; vor allem aber kann es den dringenden Wunsch wecken, die eigene Berufung der verschiedenen kirchlichen Charismen im Hinblick auf die Evangelisierung des Sozialen in neuen Formen zur Geltung zu bringen, denn „alle Glieder der Kirche nehmen auf verschiedene Weise an ihrer säkularen Dimension teil“.9 Und schließlich wird der Text als eine Anregung zum Dialog zwischen all denjenigen vorgelegt, die aufrichtig das Wohl des Menschen im Sinn haben.
11 Die ersten Adressaten dieses Dokuments sind die Bischöfe, die für seine Verbreitung und richtige Deutung die am besten geeigneten Formen finden werden. Denn es ist Teil ihres „munus docendi“, zu lehren, dass „die irdischen Dinge und die menschlichen Einrichtungen nach dem Plan des Schöpfergottes auf das Heil der Menschen hingeordnet sind und somit zum Auf bau des Leibes Christi nicht wenig beitragen können“.10 Die Priester, die Ordensleute und, allgemein gesprochen, die Ausbilder werden darin einen Leitfaden für ihre Lehrtätigkeit und ein Instrument für den seelsorgerischen Dienst finden. Die gläubigen Laien, die das Himmelreich „in der Verwaltung und gottgemäßen Regelung der zeitlichen Dinge“ suchen,11 werden darin Erleuchtung für ihren je besonderen Aufgabenbereich finden. Die christlichen Gemeinden werden dieses Dokument dazu verwenden können, die Gegebenheiten objektiv zu analysieren, sie im Licht der unveränderlichen Worte des Evangeliums zu erhellen und Grundsätze des Denkens, Urteilskriterien und Richtlinien des Handelns aus ihm zu gewinnen.12
12 Dieses Dokument richtet sich auch an die Brüder in den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, an die Angehörigen anderer Religionen und an alle Männer und Frauen guten Willens, die sich für das Gemeinwohl einsetzen: Mögen sie es annehmen als die Frucht einer universalen menschlichen Erfahrung, die von unzähligen Zeichen der Gegenwart des Gottesgeistes erfüllt ist. Es ist ein Schatz aus Neuem und Altem (vgl. Mt 13, 52), den die Kirche teilen will, um Gott zu danken, von dem „jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt“ (Jak 1, 17). Es ist ein Zeichen der Hoffnung, dass die Religionen und Kulturen in der heutigen Zeit Dialogbereitschaft an den Tag legen und sich gedrängt fühlen, ihre Anstrengungen zugunsten der Gerechtigkeit, der Brüderlichkeit, des Friedens und der Entwicklung der menschlichen Person zu vereinen. Die Katholische Kirche vereint ihre eigenen Bemühungen insbesondere mit dem, was die anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in theoretisch-reflexiver ebenso wie in praktischer Hinsicht im sozialen Bereich leisten. Zusammen mit ihnen ist die Katholische Kirche überzeugt, dass aus dem gemeinsamen Erbe der in der lebendigen Tradition des Gottesvolkes bewahrten Soziallehre Impulse und Richtlinien für eine immer engere Zusammenarbeit bei der Förderung von Gerechtigkeit und Frieden hervorgehen.13
c) Im Dienst der vollen Wahrheit des Menschen
13 Dieses Dokument ist ein Dienst der Kirche an den Männern und Frauen unserer Zeit, denen sie den Reichtum ihrer Soziallehre zum Geschenk macht, entsprechend jenem Stil des Dialogs, den Gott selbst mit der Menschwerdung seines eingeborenen Sohnes etabliert hat: „In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott (vgl. Kol 1, 15; 2 Tim 1, 17) aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde (vgl. Ex 33, 2; Jo 15, 14–15) und verkehrt mit ihnen (vgl. Bar 3, 38)“.14 In Anlehnung an die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ ist auch in diesem Dokument der Mensch, „der eine und ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen“ Angelpunkt der gesamten Darstellung.15 In der skizzierten Zielsetzung bestimmt die Kirche „kein irdischer Machtwille, sondern nur dies eine: unter Führung des Geistes, des Trösters, das Werk Christi selbst weiterzuführen, der in die Welt kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben; zu retten, nicht zu richten; zu dienen, nicht sich bedienen zu lassen“.16
14 Mit dem vorliegenden Dokument will die Kirche einen Beitrag der Wahrheit zu der Frage nach dem Platz des Menschen in der Natur und in der Gesellschaft leisten, einer Frage, mit der sich diejenigen Zivilisationen und Kulturen auseinandersetzen, die Ausdruck der Weisheit der Menschheit sind. Ihre Wurzeln reichen oft in eine tausendjährige Vergangenheit zurück, und ihre Ausprägung finden sie in den Formen der Religion, der Philosophie und des dichterischen Genies jeder Epoche und jedes Volkes, in denen sie Deutungen des Universums und des menschlichen Zusammenlebens anbieten und versuchen, dem Dasein und dem Mysterium, das es umhüllt, einen Sinn zu geben. Wer bin ich? Warum gibt es allem Fortschritt zum Trotz noch immer den Schmerz, das Böse, den Tod? Was sind solche Errungenschaften wert, wenn sie zu einem Preis erkauft werden, der nicht selten unerträglich ist? Was wird nach diesem Leben sein? Diese grundlegenden Fragen kennzeichnen den Lauf des menschlichen Lebens.17 In diesem Zusammenhang mag man sich an die Mahnung „Erkenne dich selbst“ erinnern, die auf dem Architrav des Tempels von Delphi eingemeißelt war und die elementare Wahrheit bezeugt, dass der Mensch, der dazu berufen ist, sich vor allen anderen Geschöpfen auszuzeichnen, gerade dadurch Mensch wird, dass er wesentlich darauf ausgerichtet ist, sich selbst zu erkennen.
15 Welche Ausrichtung man dem Leben, dem gesellschaftlichen Miteinander und der Geschichte gibt, hängt zu einem großen Teil davon ab, wie man die Fragen nach dem Platz des Menschen in der Natur und in der Gesellschaft beantwortet, wozu das vorliegende Dokument seinen Beitrag leisten will. Die tiefe Bedeutung des menschlichen Daseins offenbart sich nämlich in der freien Suche nach jener Wahrheit, die geeignet ist, dem Leben Richtung und Fülle zu geben, einer Suche, zu der die Intelligenz und der Wille des Menschen durch solche Fragen unablässig angetrieben werden. Sie sind der höchste Ausdruck der menschlichen Natur, weil sie die Person in eine Antwort verwickeln, die die Ernsthaftigkeit ihres Engagements an der eigenen Existenz misst. Zudem handelt es sich um im Wesentlichen religiöse Fragen: „Wenn man bei der Suche nach der letzten und erschöpfendsten Antwort den Grund der Dinge vollständig erforschen will, erreicht die menschliche Vernunft ihren Gipfel und öffnet sich dem Religiösen. Denn die Religiosität stellt die erhabenste Äußerung der menschlichen Person dar, weil sie der Höhepunkt ihrer Natur als Vernunftwesen ist. Sie entspringt der tiefen Sehnsucht des Menschen nach der Wahrheit und liegt seinem freien und persönlichen Suchen nach dem Göttlichen zugrunde“.18
16 Die grundlegenden Fragen, die den Weg des Menschen von Anfang an begleiten, gewinnen in unserer Zeit durch die Vielzahl der Herausforderungen, die Neuartigkeit der Szenarien und die folgenschweren Entscheidungen, die zu treffen die gegenwärtigen Generationen berufen sind, noch größere Bedeutung. Die erste der größten Herausforderungen, vor denen die Menschheit heute steht, ist die der Wahrheit des Menschseins. Die Fragen nach Grenzen und Beziehungen von Natur, Technik und Moral appellieren entschieden an die persönliche und kollektive Verantwortung im Umgang mit dem, was der Mensch ist, was er tun kann und was er sein soll. Eine zweite Herausforderung besteht im Verständnis und in der Handhabung des Pluralismus und der Unterschiede auf allen Ebenen: auf der Ebene des Denkens, der moralischen Wahlfreiheit, der Kultur, der Religionszugehörigkeit, der Philosophie der menschlichen und sozialen Entwicklung. Die dritte Herausforderung ist die Globalisierung, deren Bedeutung sich nicht auf die Wirtschaft beschränkt, sondern sehr viel weiter und tiefer reicht, weil in der Geschichte der Menschheit eine neue und schicksalhafte Epoche angebrochen ist.
17 Die Jünger Jesu Christi fühlen sich von diesen Fragen betroffen, sie tragen sie in ihrem Herzen und wollen sich gemeinsam mit allen Menschen bei der Suche nach der Wahrheit und dem Sinn des persönlichen und gesellschaftlichen Daseins engagieren. Zu dieser Suche tragen sie bei, indem sie großherzig Zeugnis ablegen von dem Geschenk, das die Menschheit empfangen hat: Gott hat im Lauf der Geschichte sein Wort an sie gerichtet, ja, er ist selbst in einen Dialog mit ihr eingetreten, um ihr seinen Plan des Heils, der Gerechtigkeit und der Brüderlichkeit zu offen- baren. In seinem Mensch gewordenen Sohn Jesus Christus hat Gott uns von der Sünde befreit und uns den Weg gezeigt, den wir gehen, und das Ziel, das wir anstreben sollen.
d) Im Zeichen der Solidarität, der Achtung und der Liebe
18 Die Kirche geht gemeinsam mit der ganzen Menschheit auf den Straßen der Geschichte. Sie lebt in der Welt, und obwohl sie nicht von der Welt ist (vgl. Joh 17, 14–16), ist sie dazu berufen, ihr zu dienen und damit ihrer innersten Bestimmung zu folgen. Eine solche Haltung – wie man sie auch im vorliegenden Dokument finden wird – ist von der tiefen Überzeugung getragen, dass es für die Welt wichtig ist, die Kirche als Wirklichkeit und Ferment der Geschichte anzuerkennen, ebenso wie es für die Kirche wichtig ist, sich bewusst zu machen, was sie der Geschichte und der Entwicklung der Menschheit zu verdanken hat.19 Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Solidarität, die Achtung und die Liebe gegenüber der Menschheitsfamilie beredt bekundet und ist mit dieser in einen Dialog über zahlreiche Probleme eingetreten. Zu diesem Dialog trägt das Volk Gottes dadurch bei „dass es das Licht des Evangeliums bringt und dass es dem Menschengeschlecht jene Heilskräfte bietet, die die Kirche selbst, vom Heiligen Geist geleitet, von ihrem Gründer empfängt. Es geht um die Rettung der menschlichen Person, es geht um den rechten Auf bau der menschlichen Gesellschaft“.20
19 Die Kirche, die in der Geschichte das Zeichen der Liebe Gottes zu den Menschen und der Berufung des gesamten Menschengeschlechts zur Einheit der Kinder des einzigen Vaters ist,21 will auch mit diesem Dokument über die Soziallehre allen Menschen einen Humanismus vor Augen stellen, der dem entspricht, was die Liebe Gottes für die Geschichte plant, einen umfassenden und solidarischen Humanismus, der geeignet ist, eine neue gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Ordnung herbeizuführen, die sich auf die Würde und Freiheit jeder menschlichen Person gründet und in Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität realisiert werden muss. Ein solcher Humanismus kann Wirklichkeit werden, wenn die einzelnen Männer und Frauen und ihre Gemeinschaften es verstehen, die moralischen und sozialen Tugenden in sich selbst zu pflegen und in der Gesellschaft zu verbreiten, denn „dann werden sie mit der notwendigen Hilfe der göttlichen Gnade wahrhaft neue Menschen und Erbauer einer neuen Menschheit“.22
1 Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Novo millennio ineunte, 1: AAS 93 (2001) 266. 2 Johannes Paul II., Enz. Redemptoris missio, 11: AAS 83 (1991) 260. 3 Katechismus der Katholischen Kirche, 2419. 4 Johannes Paul II., Ap. Schr. Novo millennio ineunte, 50–51: AAS 93 (2001) 303–304. 5 Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 41: AAS 80 (1988) 571–572. 6 Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Ecclesia in America, 54: AAS 91 (1999) 790. 7 Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Ecclesia in America, 54: AAS 91 (1999) 790; Katechismus der Katholischen Kirche,24. 8 Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 55: AAS 83 (1991) 860. 9 Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 15: AAS 81 (1989) 414. 10 II. Vatikanisches Konzil,Dekr. Christus Dominus, 12: AAS 58 (1966) 678. 11 II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 31: AAS 57 (1965) 37. 12 Vgl. Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 4: AAS 63 (1971) 403. 13 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 92: AAS 58 (1966)1113–1114. 14 II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei Verbum, 2: AAS 58 (1966) 818. 15 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 3: AAS 58 (1966) 1026. 16 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 3: AAS 58 (1966) 1027. 17 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 10: AAS 58 (1966) 1032. 18 Johannes Paul II., Ansprache bei der Generalaudienz (19. Oktober 1983), 2: Insegnamenti di Giovanni Paolo II,VI, 2 (1983) 815. 19 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 44: AAS 58 (1966) 1064. 20 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 3: AAS 58 (1966) 1026. 21 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 1: AAS 57 (1965) 5. 22 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 30: AAS 58 (1966) 1050.