575 Die heutige Gesellschaft spürt und erlebt ein unbestimmtes neues Bedürfnis nach Sinn: „Denn immer wird der Mensch wenigstens ahnungsweise Verlangen in sich tragen, zu wissen, was die Bedeutung seines Lebens, seines Schaffens und seines Todes ist“.1206 Die Versuche, auf die Notwendigkeit einer Zukunftsplanung im neuen Kontext der zunehmend von Komplexität und Interdependenz, doch immer weniger von Ordnung und Frieden geprägten internationalen Beziehungen zu reagieren, erweisen sich als mühselig. Leben und Tod der Personen scheinen einzig in der Hand des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts zu liegen, der schneller vonstatten geht, als der Mensch seine Kosten und seinen Nutzen gegeneinander abwägen kann. Andererseits deuten viele Erscheinungen darauf hin, dass die Menschen „in den nationalen Gemeinschaften mit hohem Lebensstandard (…) mehr und mehr die Erfahrung [machen], dass kein äußerer Wohlstand den Glückshunger zu sättigen vermag, und beginnen (…), dem Trugbild eines unbegrenzt anhaltenden glücklichen und sorglosen Lebens auf Erden zu entsagen. Zugleich erstarkt das Bewusstsein der menschlichen Personwürde und ihrer unverzichtbaren und universalen Rechte und damit verbunden das Bemühen, gerechtere und der Menschenwürde angemessenere Beziehungen untereinander herzustellen“.1207
576 Auf die grundlegenden Fragen nach dem Sinn und dem Ziel des menschlichen Abenteuers antwortet die Kirche mit der Verkündigung des Evangeliums Christi, das die Würde der menschlichen Person der Veränderlichkeit der Meinungen entzieht und die Freiheit des Menschen in einer Weise garantiert, wie kein menschliches Gesetz es vermag. Das Zweite Vatikanische Konzil hat deutlich gemacht, dass die Sendung der Kirche in der heutigen Welt darin besteht, jedem Menschen zu helfen, damit er in Gott den letzten Sinn seines Daseins erkennt: Die Kirche weiß wohl, „dass Gott, dem sie dient, allein die Antwort ist auf das tiefste Sehnen des menschlichen Herzens, das an den Gaben der Erde nie voll sich sättigen kann“.1208 Nur Gott, der den Menschen nach seinem Bild geschaffen und ihn von der Sünde erlöst hat, kann durch die Offenbarung in seinem Mensch gewordenen Sohn eine vollkommen genügende Antwort auf die grundlegendsten menschlichen Fragen geben: Das Evangelium nämlich „verkündet und proklamiert die Freiheit der Kinder Gottes; sie verwirft jede Art von Knechtschaft, die letztlich aus der Sünde stammt; sie respektiert sorgfältig die Würde des Gewissens und seiner freien Entscheidung; unablässig mahnt sie dazu, alle menschlichen Talente im Dienst Gottes und zum Wohl der Menschen Frucht bringen zu lassen; alle endlich empfiehlt sie der Liebe aller“.1209
b) Ein Neuanfang im Glauben an Christus
577 Der Glaube an Gott und an Jesus Christus erleuchtet die sittlichen Grundsätze, die „das einzige und unersetzliche Fundament jener Stabilität und Ruhe, jener inneren und äußeren, privaten und öffentlichen Ordnung sind, die allein den Wohlstand der Staaten hervorzubringen und zu bewahren vermag“.1210 Das gesellschaftliche Leben muss im göttlichen Plan verankert sein: „Die theologische Dimension erweist sich sowohl für die Interpretation wie für die Lösung der heutigen Probleme des menschlichen Zusammenlebens als unabdingbar“.1211 Angesichts der schweren Formen von Ausbeutung und sozialer Ungerechtigkeit macht sich „immer verbreiteter und heftiger (…) das Verlangen nach radikaler persönlicher und gesellschaftlicher Erneuerung bemerkbar, die allein imstande ist, Gerechtigkeit, Solidarität, Wahrhaftigkeit und Transparenz zu gewährleisten. Sicher bleibt noch ein langer und mühsamer Weg zurückzulegen; zahlreiche, gewaltige Anstrengungen müssen unternommen werden, damit eine solche Erneuerung verwirklicht werden kann; Grund dafür sind auch die Vielfalt und Schwere der Ursachen, welche die heutigen ungerechten Zustände in der Welt erzeugen und nähren. Aber wie die Geschichte und die Erfahrung jedes einzelnen lehren, kann man unschwer an der Wurzel dieser Situationen eigentlich »kulturelle« Ursachen entdecken, das heißt Ursachen, die mit bestimmten Auffassungen vom Menschen, von der Gesellschaft und von der Welt zusammenhängen. Tatsächlich steht im Mittelpunkt der kulturellen Frage das sittliche Empfinden, das seinerseits auf dem religiösen Empfinden beruht und sich in ihm vollendet“.1212 Auch im Hinblick auf die „soziale Frage“ sollte man sich nicht zu der „naiven Ansicht“ verleiten lassen, „im Hinblick auf die großen Herausforderungen unserer Zeit könnte es für uns eine »Zauberformel« geben. Nein, keine Formel wird uns retten, sondern eine Person, und die Gewissheit, die sie uns ins Herz spricht: Ich bin bei euch! Es geht also nicht darum, ein »neues Programm« zu erfinden. Das Programm liegt schon vor: Seit jeher besteht es, zusammengestellt vom Evangelium und von der lebendigen Tradition. Es findet letztlich in Christus selbst seine Mitte. Ihn gilt es kennen zu lernen, zu lieben und nachzuahmen, um in ihm das Leben des dreifaltigen Gottes zu leben und mit ihm der Geschichte eine neue Gestalt zu geben, bis sie sich im himmlischen Jerusalem erfüllt“.1213
c) Eine feste Hoffnung
578 Die Kirche lehrt den Menschen, dass Gott ihm die reale Möglichkeit bietet, das Böse zu überwinden und das Gute zu erreichen. Der Herr hat den Menschen erlöst, er hat ihn „um einen teuren Preis“ erkauft (1 Kor 6, 20). Sinn und Grundlage des christlichen Engagements in der Welt stammen aus dieser Gewissheit, die Hoffnung zu wecken vermag, obwohl die Menschheitsgeschichte zutiefst von der Sünde gezeichnet ist: Die göttliche Verheißung garantiert, dass die Welt nicht in sich selbst verschlossen bleibt, sondern offen ist für das Reich Gottes. Die Kirche kennt „die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit“ (2 Thess 2, 7) und ihre Auswirkungen, aber sie weiß auch, dass „in der menschlichen Person ausreichende Qualitäten und Energien vorhanden sind und es in ihr ein fundamentales »Gutsein« (vgl. Gen 1, 31) gibt, weil der Mensch Ebenbild des Schöpfers ist und im Einf luss des erlösenden Wirkens Christi steht, der »jedem Menschen nahe ist«, und weil das mächtige Wirken des Heiligen Geistes »die Erde erfüllt« (Weish 1, 7)“.1214
579 Die christliche Hoffnung erfüllt das Engagement im sozialen Bereich mit großem Tatendrang, weil sie den Menschen Vertrauen einflößt in die Möglichkeit, eine bessere Welt zu schaffen, auch wenn ihnen andererseits bewusst ist, dass es kein „Paradies auf Erden“ geben kann.1215 Die Christen und insbesondere die gläubigen Laien sind dazu aufgerufen, sich so zu verhalten, dass „die Kraft des Evangeliums im alltäglichen Familien- und Gesellschaftsleben aufleuchte. Sie zeigen sich als Söhne der Verheißung, wenn sie stark in Glauben und Hoffnung den gegenwärtigen Augenblick auskaufen (vgl. Eph 5, 16; Kol 4,5) und die künftige Herrlichkeit in Geduld erwarten (vgl. Röm 8, 25). Diese Hoffnung sollen sie aber nicht im Inneren des Herzens verbergen, sondern in ständiger Bekehrung und im Kampf »gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die Geister des Bösen« (Eph 6, 12) auch durch die Strukturen des Weltlebens ausdrücken“.1216 Die religiösen Beweggründe für dieses Engagement sind nicht allen gemeinsam, aber die moralischen Überzeugungen, die sich daraus ergeben, sind ein Punkt, an dem sich die Christen und alle Menschen guten Willens begegnen.
d) Die „Zivilisation der Liebe“ auf bauen
580 Der unmittelbare Zweck der Soziallehre besteht darin, diejenigen Prinzipien und Werte aufzuzeigen, auf denen sich eine menschenwürdige Gesellschaft aufbauen lässt. Unter diesen Prinzipien umfasst das der Solidarität in gewissem Sinne alle anderen: Es ist „eines der grundlegenden Prinzipien der christlichen Auffassung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung“.1217 Dieses Prinzip wird erhellt durch die Vorrangstellung der Liebe, „dem Erkennungszeichen der Jünger Christi (vgl. Joh 13, 35)“.1218 Jesus „belehrt uns (…), dass das Grundgesetz der menschlichen Vervollkommnung und deshalb auch der Umwandlung der Welt das neue Gebot der Liebe ist“ (vgl. Mt 22, 40; Joh 15, 12; Kol 3, 14; Jak 2, 8).1219 vollen Sinne menschlich, wenn es aus der Liebe hervorgeht, die Liebe erfahrbar macht und auf die Liebe ausgerichtet ist. Diese Wahrheit gilt auch für den sozialen Bereich: Die Christen müssen sich mit tiefer Überzeugung zu ihr bekennen und mit ihrem Leben zu zeigen wissen, dass die Liebe die einzige Kraft ist (vgl. 1 Kor 12, 31–14, 1), die die Person und die Gesellschaft zur Vollkommenheit und die Geschichte zum Guten führen kann.
581 Die Liebe muss gegenwärtig sein und alle sozialen Verhältnisse durchdringen:1220 Vor allem die, deren Pflicht es ist, für das Wohl der Völker zu sorgen, sollen „die Liebe, aller Tugenden Herrin und Königin, in sich bewahren und in den andern, Hohen wie Niederen, anfachen. Das Heil ist ja insbesondere von der vollen Betätigung der Liebe zu erwarten, jener christlichen Liebe, die der kurz gefasste Inbegriff der evangelischen Gebote ist, die, immer bereit, sich selbst für des Nächsten Heil zu opfern, das heilkräftigste Gegengift gegen den Hochmut und Egoismus der Welt darstellt“.1221 Diese Liebe kann als „soziale Liebe“1222 oder „politische Liebe“1223 bezeichnet werden und muss sich auf das gesamte Menschengeschlecht erstrecken.1224 Die „soziale Liebe“1225 ist das Gegenteil von Egoismus und Individualismus: Ohne das soziale Leben absolut zu setzen, wie dies in der Verflachung einer ausschließlich soziologischen Sichtweise geschieht, darf man nicht vergessen, dass die umfassende Entwicklung der Person und das soziale Wachstum sich wechselseitig bedingen. Daher ist der Egoismus der zerstörerischste Feind einer geordneten Gesellschaft: Die Geschichte zeigt, welche Verwüstungen des Herzens entstehen, wenn der Mensch nicht in der Lage ist, andere Werte und eine andere Wirklichkeit zu entdecken als die der materiellen Güter, die dadurch, dass er sie wie besessen anstrebt, seine Fähigkeit zur Hingabe hemmen und ersticken.
582 Um die Gesellschaft menschlicher, der menschlichen Person würdiger zu machen, muss die Liebe im sozialen Leben – auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene – neu bewertet und zur beständigen und obersten Norm des Handelns erhoben werden. Wenn die Gerechtigkeit in der Lage ist, „zwischen den Menschen nach Gebühr »Recht zu sprechen«, wenn sie die Sachgüter verteilen und tauschen, so ist die Liebe und nur die Liebe (auch jene gütige Liebe, die wir als »Erbarmen« bezeichnen) fähig, den Menschen sich selbst zurückzugeben“.1226 Die menschlichen Beziehungen können nicht einfach nur durch Gerechtigkeit geregelt werden: „Der Christ weiß, dass die Liebe der Grund ist, weshalb Gott mit dem Menschen in Beziehung tritt. Und ebenso ist es die Liebe, die Gott sich als Antwort vom Menschen erwartet. Die Liebe ist darum auch die erhabenste und vornehmste Beziehungsform der Menschen untereinander. Die Liebe soll daher jeden Bereich des menschlichen Lebens beseelen und sich desgleichen auf die internationale Ordnung ausdehnen. Nur eine Menschheit, in der die »Zivilisation der Liebe« herrscht, wird sich eines wahren und bleibenden Friedens erfreuen können“.1227 Vor diesem Hintergrund empfiehlt das Lehramt nachdrücklich die Solidarität, denn diese vermag das Gemeinwohl zu garantieren, indem sie die umfassende Entwicklung der Personen fördert: Die Liebe „lässt dich den Nächsten als dein zweites Selbst begreifen“.1228
583 Nur die Liebe kann den Menschen vollständig verwandeln.1229 Eine solche Verwandlung bedeutet nicht, dass die irdische Dimension in einer fleischlosen Spiritualität aufginge.1230 Wer glaubt, sich der übernatürlichen Tugend der Liebe annähern zu können, ohne die entsprechende natürliche Grundlage zu berücksichtigen, zu der auch die Pflichten der Gerechtigkeit gehören, betrügt sich selbst: „Die Liebe ist das größte soziale Gebot. Sie achtet den anderen und dessen Rechte. Sie verlangt gerechtes Handeln, und sie allein macht uns dazu fähig. Sie drängt zu einem Leben der Selbsthingabe: »Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es gewinnen« (Lk 17, 33)“.1231 Ebenso wenig aber kann sich die Liebe in der bloß irdischen Dimension der menschlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Verhältnisse erschöpfen, denn ihre gesamte Wirksamkeit stammt aus ihrem Gottesbezug: „Am Ende dieses Lebens werde ich mit leeren Händen vor dir erscheinen; denn ich bitte dich nicht, o Herr, meine Werke zu zählen. All unsere Gerechtigkeit ist voll Makel in deinen Augen! Ich will mich also mit deiner eigenen Gerechtigkeit bekleiden und von deiner Liebe den ewigen Besitz deiner selbst erlangen“.1232
1206 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,41: AAS 58 (1966) 1059. 1207 Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 451. 1208 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes,41: AAS 58 (1966) 1059. 1209 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 41: AAS 58 (1966) 1059–1060. 1210 Pius XII., Enz. Summi Pontificatus: AAS 31 (1939) 425. 1211 Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 55: AAS 83 (1991) 860–861. 1212 Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 98: AAS 85 (1993) 1210; vgl. Id., Enz. Centesimus annus, 24: AAS 83 (1991) 821–822. 1213 Johannes Paul II., Ap. Schr. Novo millennio ineunte, 29: AAS 93 (2001) 285. 1214 Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 47: AAS 80 (1988) 580. 1215 Vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 451. 1216 II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 35: AAS 57 (1965) 40. 1217 Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 10: AAS 83 (1991) 805–806. 1218 Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 40: AAS 80 (1988) 568. 1219 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 38: AAS 58 (1966) 1055–1056; vgl. Id., Dogm. Konst. Lumen gentium, 42: AAS 57 (1965) 47–48;
Katechismus der Katholischen Kirche, 826. 1220 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1889. 1221 Leo XIII., Enz. Rerum novarum: Acta Leonis XIII, 11 (1892) 143; vgl. Benedikt XV., Enz. Pacem Dei: AAS 12 (1920) 215. 1222 Vgl. Thomas von Aquin,QD De caritate,a. 9,c; Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 206–207;
Johannes XXIII., Enz. Mater et magistra: AAS 53 (1961) 410; Paul VI., Ansprache an die FAO (16. November 1970), 11: AAS 62 (1970) 837–838;
Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder der Päpstlichen Kommission „Iustitia et Pax“ (9. Februar 1980), 7: AAS 72 (1980) 187. 1223 Vgl. Paul VI., Ap. Schr. Octogesima adveniens, 46: AAS 63 (1971) 433–435. 1224 Vgl. II. Vatikanisches Konzil,Dekr. Apostolicam actuositatem, 8: AAS 58 (1966) 844–845; Paul VI., Enz. Populorum progressio, 44: AAS 59 (1967) 279;
Johannes Paul II., Ap. Schr. Christifideles laici, 42: AAS 81 (1989) 472–476; Katechismus der Katholischen Kirche, 1939. 1225 Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis, 15: AAS 71 (1979) 288. 1226 Johannes Paul II., Enz. Dives in misericordia, 14: AAS 72 (1980) 1223. 1227 Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2004, 10: AAS 96 (2004) 121; vgl. Id., Enz. Dives in misericordia, 14: AAS 72 (1980) 1224;
vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2212. 1228 Johannes Chrysostomus, Homilia De perfecta caritate, 1, 2: PG 56, 281–282. 1229 Vgl. Johannes Paul II., Ap. Schr. Novo millennio ineunte, 49–51: AAS 93 (2001) 302–304. 1230 Vgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 5: AAS 83 (1991) 798–800. 1231 Katechismus der Katholischen Kirche, 1889. 1232 Theresia vom Kinde Jesu, Acte d’offrande à l’Amour miséricordieux, zitiert in Katechismus der Katholischen Kirche, 2011.